Was sehen wir noch, wenn wir nichts mehr sehen?

Wir sehen immer etwas.

»nichts mehr sehen« ist eine Metapher für Zustände, in denen die gewohnte Sehkraft nachläßt,
aussetzt oder ausgehebelt wird. Was sehen wir noch im Gegenlicht, im Zwielicht, in der Dunkelheit, in einem Anfall von Schwindel, in Übermüdungszuständen, in Halluzinationen, im Zuge einer Erblindung? Es läßt sich als eine Erweiterung des gewohnten Sehraums begreifen.

Die Fotos in diesem Buch zeigen Fahrten durch städtische Räume; es sind Raum- und Raumzeit-Aufzeichnungen. Im Wagen ist eine Plattenkamera installiert. Ich messe vor der Aufzeichnung die Lichtverhältnisse, wähle eine Blende, fokussiere auf den Vorder-, Mittel- oder Hintergrund und starte. Während ich fahre, öffne ich den Verschluss des Objektivs und schließe ihn, nachdem ich die geplante Strecke durchfahren habe.

Die Belichtung erfolgt auf ein einzelnes Negativ. Man könnte auch sagen, ich fotografiere blind. Weder sehe ich in einem Sucher oder auf einem Bildschirm, was ich aufzeichne, noch kann ich den Raum / die Straße während der Aufnahme fokussieren. Der Zustand dieses eingeschränkten Sehens ist aufgehoben in einem erweiterten fotografischen Verhalten – der Bewegung – und in einem mit dieser Bewegung erweiterten fotografischen Aufnahmeraum.  Soweit die Aufnahme. Sie gehorcht einer Strategie, Regieanweisungen, einem Wissen um …, einer Erfahrung und ist immer auch von einer ungewissen Erwartung erfüllt.

Es verbirgt sich dahinter eine andere Frage: Wollen wir fotografieren, was wir sehen?
Oder wollen wir fotografieren, was wir mit dem bloßen Auge nicht sehen können?!
Mit dem vorliegenden Segment von Tag- und Nachtfahrten fertige ich Schichten / Sedimente des Raumes an, Ablagerungen von Raum-Zeit, die wir mit dem bloßen Auge nicht sehen können. Kamera und Film sind in diesem Verfahren davon befreit abzubilden, was das Auge sieht. Sie liefern ohnehin nie identische Ablichtungen dessen, was das Sehzentrum unseres Gehirns als Erscheinung liefert. Es ist unserer Illusionsfähigkeit zu verdanken, wenn wir unsere alltägliche Sicht der Dinge mit einem Foto in Deckung bringen, ein Foto uns als korrekte Abbildung der Wirklichkeit gilt oder als Erinnerungsbild erfüllt.

In den Aufnahmen dieses Buches sind die Sicht des Kameraauges und die normative Arbeit unseres Gehirns in der Verarbeitung visueller Impulse aus der Deckung gebracht.
Was sehe ich noch, wenn ich nichts mehr sehe? Die Frage ist mehr als nur eine Metapher.
Nach der Entwicklung eines Films sind die Ergebnisse meiner strategischen Annahmen,  
der Regieführungen und der Eigensinn der Aufzeichnung zu sehen. Die vergrößerten Bilder
sind auslegungsgeeignet, erklärungsbedürftig wie astronomische Aufnahmen, Nebelkammer-aufnahmen, Radar- oder Ultraschallbilder, wie Kunst.
Wir erkennen nicht gleich, worum es sich handelt, wo wir uns – in diesen Bildern – befinden.

Die Fotografien in diesem Buch erfordern eine Anstrengung des Sehens / Denkens oder umgekehrt eine Genügsamkeit und Erfülltheit des Sehens wie in einer Dämmerung,
in einer Lichterscheinung, einer Halluzination, in einem visionären Sehen –
wenn wir uns darauf einlassen. 

Michael Järnecke