Gedanken zu Michael Järneckes Buxtehude-Projekt

von Bernd Utermöhlen

 

Mit seinem Buxtehude-Projekt hat Michael Järnecke innerhalb seiner Städteaufzeichnungen, wie er zu Beginn dieses Buches schreibt, »die erste in sich geschlossene Darstellung einer Stadt mit bewegter Fotografie« realisiert. »Bewegte Fotografie« heißt in diesem Fall: nicht das Motiv ist in Bewegung, sondern die Kamera, die – montiert hinter die Windschutzscheibe eines PKW – mit geöffnetem Objektiv auf einer bestimmten Strecke eine gewisse Zeit durch den Raum der Stadt bewegt wird.

Erste Fotofahrten durch Buxtehude unternahm Michael Järnecke von Februar bis Mai 2015 im Rahmen des jährlich vom Kultur-büro der Hansestadt Buxtehude ausgeschriebenen Wettbewerbs »KünstlerInnen sehen ihre Stadt«. Mit dem Bild »Lichttopo-grafische Aufzeichnung des Buxtehuder Altstadtrings am Abend des 02.05.2015«, aufgenommen in einer 6-minütigen Fahrt auf einer 1,5 km langen Strecke, überzeugte er die Jury und gewann den Kunstpreis 2015. Für die Preisträger-Ausstellung 2016 – »Wirklich? … Buxtehude?« vom 29. Mai bis 3. Juli 2016 im Buxtehuder Marschtorzwinger – dehnte Michael Järnecke seinen Aktionsradius auf das gesamte Stadtgebiet aus, das er in weiteren Fotofahrten von März bis Mai 2016 erschloss. Durch begleitende Recherchen an historischem Kartenmaterial, u.a. im Buxtehuder Stadtarchiv, nahm der Künstler nicht nur Straßen in den Blick, die heute am meisten frequentiert sind, sondern auch diejenigen, die in früheren Zeiten Hauptverkehrswege waren, wie zum Beispiel den Alten Postweg, der heute durch das Industriegebiet Ost führt und in einer Sackgasse endet.

Der Aufbau des Buches macht den Zugriff aufs Ganze deutlich. Nach einem einleitenden Teil bieten drei Karten von 1769/72, 1899 und 2017 zunächst einen Überblick über das gesamte Stadtgebiet mit dem zugehörigen Verkehrswegenetz. Danach nähert sich der Autor mit 5 Fahrten auf der B73 »An Buxtehude vorbei« der Stadt. Sodann schlägt er in 9 Zufahrten »Wege nach Buxtehude« ein, angefangen bei der Harburger Straße über die Stader Straße, die Apensener Straße, die Moisburger Landstraße, den Alten Postweg, die Estebrügger Straße sowie die Strecke von Neukloster über Heitmannshausen bis zum Bahnhof. Daran schließen sich 19 einzelne Strecken und Ringfahrten um »Hafen, Fleth und Viver« und »In der Altstadt« an. Es folgen 8 weitere in der Nähe der Altstadt liegende »Strecken und Straßen« an der Bahnhofstraße, der Harburger Straße, der Hansestraße und Konrad-Adenauer-Allee bis in die Straße Obstgarten hinein. Dann rückt der Ortsteil Altkloster in den Mittelpunkt des Interesses und wird mit 6 Fahrten ebenfalls komplett erschlossen, u.a. mit einer Ringfahrt um den historischen Klosterbezirk. Erfasst wird auch das Industriegebiet Ost und das Gewerbegebiet Lüneburger Schanze mit 3 Fahrten durch den Alten Postweg, die Straße Lüneburger Schanze, von der Schanzenstraße über den Alten Postweg und den Ostmoorweg bis hin zur Harburger Straße. Auch eine Fahrt zum Hochhausviertel Sagekuhle über die Dammhausener Straße darf nicht fehlen. Der Abschluss des Buches wird eingeleitet mit einer 12-minütigen Ortsdurchfahrt von Ottensen bis Dammhausen, aufgenommen mit einer Lochkamera. Das Ende bildet eine Serie von 7 »Ausfahrten«. Zunächst in Richtung Süden vom Westfleth zum Föhrenweg in Ottensen, sodann nach Norden »Ins Alte Land« nach Moorende, Hove und Estebrügge.

Mit 7 Bildern im Einleitungsteil vereinigt das vorliegende Buch insgesamt 67 Aufzeichnungen von Fotofahrten durch das Buxtehuder Stadtgebiet. Darunter sind 36 Nacht-, 28 Tagfahrten und 3 Fahrten in der Abenddämmerung. Alle Fahrten sind mit Datum, Fahrtdauer, Streckenverlauf räumlich und zeitlich verortet und in den Bildlegende am Ende des Buches nachgewiesen. Für die Stadtaufzeichnungen war Michael Järnecke zwischen Februar und Mai 2015 an insgesamt 3 Tagen in Buxtehude unterwegs und zwischen März und Mai 2016 nochmals an weiteren 11 Tagen. Die kürzesten der in diesem Buch dokumentierten Fahrten dauerten 10 Sekunden, die längsten 12 Minuten. Die meisten Fahrten hatten eine Dauer zwischen 2 und 7 Minuten. Insgesamt sind durch die 67 Abbildungen in diesem Buch Fotofahrten durch Buxtehude mit einer Gesamtdauer von 4 Stunden 16 Minuten und 23 Sekunden dokumentiert. Ging es dem Künstler bei der Preisträgerausstellung 2016 mit einer Auswahl von 30 Bildern vordringlich um die Präsentation seiner Arbeiten als autonome Fotografien, zielte er in der Fortführung seines Projekts auf die Darstellung des Ganzen der Stadt. Das ist ihm im vorliegenden Buch eindrucksvoll gelungen.

Allerdings gibt es ein Fragezeichen mehr! Lautete der Titel der Ausstellung noch »Wirklich?…Buxtehude?«, ist im Buchtitel eine dritte Frage hinzugekommen: »Wirklich? Buxtehude? Really?« Als weise dieses »Really?« die Möglichkeit bejahender Antworten der ersten beiden sofort wieder zurück. Als frage Järnecke, was durch seine fotografischen Raum-aufzeichnungen eigentlich geschehe, oder in seiner eigenen Formulierung: »Wird die Stadt eine andere dadurch, wie ich sie hier fotografisch behandele?« Zunächst ist festzuhalten, dass Michael Järnecke Buxtehude mit seinem Verfahren tatsächlich in sich geschlossen dargestellt hat. Für Buxtehude leistet er damit eine umfassende Dokumentation der in und um die Stadt bestehenden Verkehrswege in einem Zeitfenster von etwa anderthalb Jahren. Dass dies schon jetzt historisch ist, zeigt die Aufzeichnung der Tag-/Nachtfahrt auf der Estebrügger Straße vom 26.03.2016 (siehe Seite 32): Die Ampel, die auf diesem Bild noch für farbige Streifen sorgte, existiert nicht mehr, durch den Bau eines Kreisels ist sie überflüssig geworden. – Eine zeitliche Tiefendimension ist auch dadurch angelegt, dass Järnecke historisches Kartenmaterial für das Finden seiner Fahrtstrecken benutzt. Auf diesen Trassen, die heute mit dem PKW befahren werden können, haben sich seit Urzeiten Menschen bewegt. Es sind Verkehrsräume mit unterschiedlich langer Geschichte: Auf den Geestrandstrecken, etwa im Bereich der B73, sind bereits seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 15000 Jahren Rentierjäger entlanggezogen und haben dort Rastplätze gehabt. Andere Strecken, wie zum Beispiel die in der Altstadt, sind erst seit der Stadtgründung im Jahr 1285 entstanden; darunter sind aber auch Straßen wie Hinter dem Zwinger oder die Viverstraße, die erst nach dem Zuschütten des Vivers um 1959 angelegt worden sind. Indem Järnecke diese Verkehrsräume dokumentiert, macht er aufmerksam auf Veränderungen sowohl in der Landschaft als auch in der Stadt selbst. Fährt man in diesem Bewusstsein zum Beispiel die Straße Hinter dem Zwinger ab, weiß man sich auf einer Fläche, die vor ca. 6 Jahrzehnten noch von Wasser bedeckt war, oder bei der erwähnten Ringfahrt um den Klosterbezirk weiß man sich auf Flächen, die vor 400 Jahren die Umwallung des Klosters trugen.

Angesichts dessen stellt sich Järneckes »Frage nach dem Wesen einer Stadt durch ihre Veränderungen hindurch« neu: Wie war es früher hier und wie wird es später hier sein? Ist das, was früher war, noch vorhanden, ist das, was später sein wird, schon da? Ist das Wesen der Stadt – als unzerstörbarer Kern gedacht – dauerhaft zu erkennen? Und wenn ja, wie?

Wie sind die Raumaufzeichnungen in quellenkritischer Hinsicht zu beurteilen? Die Ablagerung von Schichten auf dem Negativ, die fotografische Sedimentation, lässt sich anhand eines Vergleichs mit dem Film verdeutlichen. Ausgehend von einer üblichen Bildwechselfrequenz von 24 Aufnahmen pro Sekunde lässt sich eine Minute Järneckescher Raumaufzeichnung aus 1440 Schichten bestehend denken. Bei einer 6-minütigen Aufnahme sind das bereits 8640 Schichten. Allerdings: Je feiner ich die Schichten definiere – mit Hochgeschwindigkeitskameras sind mittlerweile eine Million Aufnahmen pro Sekunde möglich –, desto mehr Schichten können angenommen werden. Theoretisch ist die Feinheit der Schichten unbegrenzt. Potentiell sind sie alle auf dem Negativ vorhanden. Dabei besteht jede Schicht aus den bei der Aufnahme zeitgleich auf das Negativ getroffenen Photonen. Jede Schicht speichert demzufolge Milliarden von subatomaren Einzelereignissen. Das macht die ungeheure Dichte der fotografischen Sedimentation aus. Auf dem Filmmaterial überlagern sich die Schichten transparent, wodurch höchst kunstvolle Fotografien entwickelt werden können. Aber: Die Bilder in diesem Buch geben lediglich Abzüge der zugrundeliegenden Negative wider. Nur die Negative enthalten alle Informationen über die aufgezeichnete Raumzeit. Das einzelne Negativ ist sozusagen die Urkunde über die jeweils dokumentierte Raumzeit. Im Wissen, dass bei den Raumaufzeichnungen die zeitliche Dimension mit abgebildet ist, können wir die entstandenen Formen deuten, vollkommen erkennen können wir das Abgebildete nicht. Vorstellbar ist, dass in ferner Zukunft ein Computer in der Lage sein wird, das Negativ komplett zu entschlüsseln. Auf dieser Grundlage könnte man dann aus den Negativen die Stadt wieder erstehen lassen. In diesem Sinne liefert Michael Järnecke wirklichkeitsgetreue Abbilder von Buxtehude.

Die Schwierigkeit, die Leistung seiner Raumaufzeichnungen zu beschreiben, rührt daher, dass Järnecke mit seiner Methode der bewegten Fotografie außer dem Raum auch die Zeit aufzeichnet. Korrekterweise müsste man sie deshalb Raum-Zeit-Aufzeichnungen nennen. »Was also ist die Zeit?« fragte schon der Heilige Augustinus in dem berühmten zeitphilo-sophischen Buch XI seiner »Confessiones« (übersetzt von Kurt Flasch, Stuttgart, Reclam 2008, S. 193) und beklagte sein Unvermögen, diese Frage zu beantworten: »Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es, will ich es jemandem auf seine Frage hin erklären, weiß ich es nicht.« Nun sind wir heute rund 1600 Jahre weiter, aber auch in der modernen Physik ist die Frage nach »der Zeit« letztlich offen. Allerdings haben wir uns seit Albert Einsteins Relativitätstheorie von der Vorstellung verabschiedet, Zeit existiere unabhängig vom Raum und sprechen stattdessen von einer Raum und Zeit vereinigenden vierdimensionalen Raumzeit. Was bedeutet dies im Hinblick auf die bewegte Fotografie? Mit seiner Methode gelingt es Michael Järnecke, die vier Dimensionen der Raumzeit auf einem Träger, dem Negativ, festzuhalten. Er lässt die Raumzeit auf dem Negativ sedimentieren. Der dabei entstehende Schichtenaufbau lässt sich dreidimensional vorstellen, wohingegen die Abfolge der Schichten die zeitliche Dimension repräsentiert. Auf diese Weise kann Järnecke konkrete Stücke von Raumzeit fixieren und als fotografisch entwickelte Raumzeit-Präparate der Betrachtung zugänglich machen. Alles ist darin gleichzeitig vorhanden. Dennoch lassen sich die erzeugten Formen und Lineaturen aus ihrer zeitlichen Entstehung deuten. So ist zum Beispiel eine Lichtquelle zu Anfang

der Fahrt klein und in der Mitte des Bildes zu sehen, strebt als mehr oder weniger starke Linie entweder zur Seite oder nach oben und verschwindet am Ende als dicker Kondensstreifen aus dem Bild. Wandert man also die Bildfläche mit den Augen ab, kann man sozusagen in der Zeit spazieren gehen. Als kleine Ausschnitte verweisen die Bilder auf eine Wirklichkeit als Ganzes, in der alles festgehalten ist und nichts verlorengeht. Dies korrespondiert überraschenderweise mit der Auffassung des Augustinus: »Im Ewigen aber geht nichts vorher, dort ist das Ganze gegenwärtig, während keine Zeit ganz gegenwärtig ist. […] Wer nimmt das Herz des Menschen in die Hand, dass es zur Ruhe komme und sehe, wie die Ewigkeit in ihrem Stillstand das Zukünftige und das Vergangene bestimmt, ohne selbst zukünftig oder vergangen zu sein?« (Confessiones, a.a.O., S. 188f.) In Michael Järneckes bewegter Fotografie erhält die Formulierung »Ewigkeit in ihrem Stillstand« einen weltlich-bildlichen Ausdruck.

Würde man auf diese Weise vom Urknall bis heute eine Kamera mitlaufen lassen können, hätte die gesamte Weltgeschichte auf einem einzigen Negativ Platz. Demgegenüber sind mit den 67 in diesem Band abgebildeten Raumaufzeichnungen nur winzige Stücke Raumzeit fotografisch festgehalten. Jedes einzelne Stück ist sozusagen ein Raumzeit-Torso, bei dem Anfang und Ende fehlen. Aber als Teil kündet jedes dennoch vom Ganzen. Jeder Torso enthält für sich eine unermessliche Fülle an Einzelinformationen und dies ermöglicht die Entwicklung der gerade auch in ästhetischer Hinsicht faszinierenden Bilder.

Mit der ungeheuren Dichte der Darstellung erfüllen Järneckes Raumzeit-Torsi eine der wesentlichen Anforderungen von Hegel an Kunst, nämlich »daß sie jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle«, die Kunst macht »jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde.« (Vorlesungen über Ästhetik I, Frankfurt, Suhrkamp 1970, S. 203) Dies erlebend bleibt die Betrachtung der Bilder nicht folgenlos. Die Stoßwirkung, die von ihnen ausgeht, geschieht im Moment des Erkennens, dass die kunstvoll gestaltet erscheinenden Formen ihre Entstehung der in ihnen enthaltenen Zeit verdanken. In diesem Moment wird die Oberfläche lebendig und schaut im Hegelschen Sinne »tausendäugig« aus dem Bild zurück. Wie ein solcher Blick erfahren werden kann, hat Rainer Maria Rilke 1908 literarisch zum Ausdruck gebracht in seinem Gedicht »Archaïscher Torso Apolls«, das ich daher ans Ende stelle.

 

Archaïscher Torso Apolls

 

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.